Liebevoller Umgang mit sich selbst und anderen

von Zen-Meisterin Doris Zölls, Mitglied des spirituellen Beirats am Benediktushof

Als ich noch in der Schule arbeitete, prägte dort eine Lehrerin die Arbeitsatmosphäre. Obwohl sie bereits alt war, ging sie noch nicht in den Ruhestand, sondern wirkte weiterhin an der Schule, vor allem in der Lehrerfortbildung. Sie war so diszipliniert, kam als erste in die Schule und ging als letzte. Sie war stets gut vorbereitet, nie krank und nahm alle Aufgaben an, die anstanden. Sie genoss die Achtung und die Bewunderung aller anderen Kollegen und Kolleginnen. Jeder fühlte sich ihr unterlegen.

Eines Tages wurde ihr eine junge Lehrerin an die Seite gestellt, die ihre Nachfolge antreten sollte. Ich bemerkte bald, wie die junge Kollegin versuchte, ihr nachzueifern und sich dabei heillos überforderte. Sie konnte mit dem Arbeitspensum und auch dem Arbeitstempo nicht mithalten, wovon sie glaubte, dass das die ältere Kollegin von ihr verlangte.

Mit der Zeit schlichen sich Krankheiten bei ihr ein. Es war grausam mit anzusehen, wie sie, um überhaupt zur Ruhe zu kommen und sich aus der Überforderung herausnehmen zu können, krank wurde. Zu sagen, „ich kann nicht so viel leisten“, wäre für die junge Lehrerin Schwäche gewesen, die sie sich gegenüber der älteren Kollegin nie zu zeigen getraute. Krankheit hingegen erschien ihr als triftiger Grund, bei dem sie sich nicht schuldig fühlen musste.

Auf einmal bekam mein Bild von der so wunderbaren Lehrerin Risse. Ich merkte, dass ihre starke Haltung und ihre indirekte Erwartung, „die anderen sollen es genauso machen“, andere nicht nur schwach, sondern sogar krank machte. Mir wurde auch bewusst, wie wichtig es ist, nicht nur einem Idealbild zu folgen, sondern, bei sich selbst zu schauen, wer bin ich und was möchte ich leben.

Dazu gehört – und das ist die große Herausforderung – sich selbst mit allem, und vor allem sich mit seinen „Schwächen“, kennen zu lernen. Das Wort Schwäche ist hier eigentlich nicht treffend. Wenn ich meine eigene Begrenztheit, meine Verletzlichkeit, meine „Unvollkommenheit“ annehme und zulasse, ist das gerade Stärke. Die alte Lehrerin hatte eine unendliche Kraft, immer wieder über ihre Grenzen zu gehen. Sie konnte sich keine Schwäche zugestehen, doch damit war es auch für alle in ihrem Umkreis nicht möglich, schwach zu sein. Die Stärke, nur für alle anderen da zu sein, alle Aufgaben zu erfüllen, wandelte sich zu einer Überforderung aller anderen. Mir wurde bewusst, wenn man zu sich so unnachgiebig ist, und das auch auf andere überträgt, wird man für seine Mitmenschen eine unbezwingbare Herausforderung.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“

Jesus

Es geht nicht darum, seine „Unzulänglichkeiten“ auszuleben, doch ich darf sie nicht negieren, sie nicht verdrängen oder sie unterdrücken, denn damit werde ich hart mir und anderen gegenüber. Sie zu erkennen, mich anzunehmen als der, der eben dies oder jenes nicht kann oder ist, macht mich weich, auch meinen Mitmenschen gegenüber, denen es vielleicht genauso ergeht. Achte ich mich, ist es wie selbstverständlich, dass ich diese Wertschätzung auch dem anderen gegenüber aufbringe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagte Jesus zu den Menschen. Er wusste genau, wenn wir uns selbst nicht annehmen können, gelingt uns dies auch nicht bei anderen. Ein liebevoller Umgang mit sich selbst ist einer der schwersten Wege, den wir beschreiten können. Ich darf mir nämlich nichts vormachen oder bei meinen „Schwächen“ wegschauen. Wer von uns jedoch möchte nicht dadurch hervorstechen, alles unter Kontrolle zu haben? Sich auszuhalten und sich nicht zu verurteilen, nichts zu verdrängen, sondern alle Seiten des Lebens in sich zu erkennen, ist die Voraussetzung für die Freiheit, mich weder zu knechten, noch Verdrängtes zu leben. Dies ist auf der einen Seite eine große Selbstfürsorge und gleichzeitig ist es auch die Fürsorge für alle Wesen. Sich wirklich zu lieben ermöglicht erst andere zu lieben.


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